Bernhard Peter
Die Shir-Dor-Medrese in Samarqand

Wenn man auf dem Registan steht und genau gegenüber zwei fast baugleiche Fassaden sieht, auf der einen Seite die Ulugh Beg Medrese, auf der anderen Seite die Medrese Shir-Dor (Sherdor madrasasi), einander genau mit den Portalen gegenüber stehend (Kosh-Anordnung), beide mit einem riesigen tiefrechteckigen Eingangs-Iwan, beide mit flankierenden Minaretten an den Ecken des Gebäudes, beide mit Kuppelräumen in den Ecken rechts und links des Eingangs-Pishtaqs, beide mit quadratischem Innenhof und mit Studentenzellen auf zwei Stockwerken, beide dem Vier-Iwan-Schema folgend, beide mit ähnlicher Wegführung vom Eingangs-Iwan ins Innere, dann mag man gar nicht glauben, daß sie nicht aus einer Zeit stammen. Nein, zu Ulugh Begs Zeiten, als die westliche Medrese errichtet wurde, stand hier an dieser Stelle eine Khanqah, von der sich keine sichtbaren Reste erhalten haben. Und vor dieser Khanqah befand sich dort ein sog. Tim, ein überkuppeltes Basargebäude, im 14. Jh. errichtet von Tuman-Aka, einem Gefährten Timurs. Timurs Nachfolger Ulugh Beg ließ das Tim abreißen und eine Khanqah als Ergänzung zu seiner Medrese erbauen. In der Tat wurde die Medrese Shir Dor, auf den ersten Blick der Ulugh Beg-Medrese täuschend ähnlich, erst 1611/1619-1636 erbaut, also rund 200 Jahre später als ihr Gegenüber.

Auf den zweiten Blick sieht man aber auch deutliche Unterschiede, sowohl im Konzept als auch im Dekor, die die Weiterentwicklung deutlich vor Augen führt.

Besonders markant und weithin sichtbar sind die beiden türkisblauen Kuppeln auf hohem und schlankem Tambour über den beiden überkuppelten Räumen des Westflügels, typisch timuridische Doppelschalenkuppel (die beim Pendant von Ulugh Beg nicht mehr erhalten sind), hier mit besonders schönen Rippen versehen, die in einer Muqarnas-Zone abgestuft in die Trommel übergehen. Die Trommel des Tambours ist mit verschiedenen kalligraphischen Friesen verziert.

Der Name der Medrese „Shir Dor“ leitet sich ab von „Shir“ – „Tiger“ (man denke an Herrscher wie Shir Ali, die den Tiger auch im Namen trugen) und „Dor“ – „Haus“, also „Tiger-Haus“. Das bezieht sich auf die einzigartige Dekoration der dreieckigen Felder des Eingangs-Pishtaqs. Rechts und links sind je ein Tiger zu sehen, der sich auf eine Hirschkuh oder Gazelle stürzt, im Hintergrund über dem Rücken der Tiger eine strahlende Sonne mit menschlichen Gesichtszügen unter dem Strahlenkranz. Einzigartig ist nicht nur die Technik des Fassadenschmucks, sondern vor allem die Tatsache, daß sich an so markanter Position an einem religiösen Gebäude eine äußerst naturalistische Darstellung von vier Tieren und zwei anthropomorphen Antlitzen findet, entgegen dem so häufig beschworenen Bilderverbot des Islams. Was war die Legitimation? Möglicherweise waren die Tiger Sinnbild des Herrschers und Symbol für seine Regierungskraft. Auch die Sonnensymbolik könnte im Dienste des Herrschers stehen. Es kann ferner ein Einfluß der bukharischen Kunst angenommen werden, in der figürliche Darstellungen zu der Zeit nicht unpopulär waren.

Als Auftraggeber gilt der Usbeken-Herrscher Alchin Yalangtush Bahadur aus dem Geschlecht der Shaibaniden, als Architekt wird in einer Inschrift Abdu-l-Dschabbar genannt, für die künstlerische Gestaltung Muhammad Abbas. Yalangtush ließ einen Teil des alten Ensembles von Ulugh Beg, nämlich dessen Khanqah abreißen und auf dem Schutthaufen seine Medrese als Spiegelbild der älteren gegenüber errichten, mit symmetrischer Fassade, mit einem dominanten eingetieften Portal, das nicht vor die Linie der Außenfassade vorspringt. Die genau gegenüber den Ulugh-Beg-Minaretten plazierten fast baugleichen schlanken Minarette der neuen Anlage, ergänzt durch die restlichen zwei an den rückwärtigen Gebäudeecken, rahmen die Fassaden ein und vervollkommnen den Bezug der beiden Gebäude aufeinander.

Die sehr geschlossen wirkenden Außenfassaden sind kaum durch Fensteröffnungen durchbrochen, sondern bieten eine ausgedehnte Fläche für polychromatisches geometrisches Dekor, das sich als Netz mit diagonaler Ausrichtung wie Maschendraht mit kalligraphischer Füllung in blau über die Wände zieht. Die kurzen diagonal angeordneten kufischen Inschriften stellen im wesentlichen das Glaubensbekenntnis dar: Z. B. in den Doppelrhomben gleich hinter den vorderen Minaretten steht „Muhammad Rasul-ullah“, in den rechtwinklig abknickenden Flächen „La ilaha illa Allah“. Im weiteren Fassadenverlauf werden die Schriftinhalte variiert (s.u.).

Abb.: Sher Dor Medrese, West-Ost-Schnitt, Blick von Süden auf die Schnittfläche und den Nord-Iwan mit polygonaler Rückwand. Links angeschnitten die Tillja Kori Medrese, rechts der Kuppelbasar.

Der Innenhof zeigt ein sehr geschlossenes Bild. Zweigeschossig ziehen sich die Studentenzellen (Khudschra) um den Hof, jeweils drei rechts und drei links des Iwans, im Erdgeschoß durch kleine Nischen vom Hof aus zu betreten, im Obergeschoß von einem kleinen Gang aus, der hinter den Blendnischen herläuft. Die drei Flügel im Norden, Süden und Osten sind so aufgebaut, ergänzt durch überkuppelte Eckräume. Die in der Mitte der jeweiligen Hoffassaden liegenden Iwane dienten als Unterrichtsräume. Der Westflügel ist dadurch, daß er Eingangsbereich ist, komplexer aufgebaut und enthält mehr Durchgangsräume und die zwei überkuppelten Andachtsräume in den Ecken.

Die Medrese war Objekt umfangreicher Restaurierungsarbeiten, erst in den 1920er und 1930er Jahren kurz nach der russischen Invasion, dann in erheblich größerem Umfang in den 1950er Jahren, wobei geneigte Minarette wieder gerade gerichtet wurden und gesprungene Kuppeln und Wände mit Stahlankern verstärkt wurden. Das Obergeschoß der hofseitigen Fassaden wurde im Jahre 1962 fast komplett restauriert, nachdem substantielle Schäden an Mauerwerk und Dekor das nötig machten.

Das kalligraphische Programm der Shir Dor
Wie bei der gegenüberliegenden Ulugh Begh Medrese ist die monumentale Kalligraphie ein wesentlicher Teil des dekorativen Programms. Wenige Schriftarten der vielfältigen Varianten arabischer Schrift kommen aufgrund ihrer Eigenschaften für Gebäudeverzierungen in Frage. Allen voran ist das das geometrische Kufi, das vor allem für flächigen Dekor verwendet wird, und das Thuluth, mit dem bandartige Elemente aufgebaut werden. Erstere überziehen Innen-und Außenflächen, letztere sind auf den Pishtaqs zu finden. Hier sollen vor allem die kufischen Elemente besprochen werden, die in einen übergeordneten geometrischen Kontext eingebaut werden und wie Füllungen von Strickmaschen diagonal die Gebäudeflächen überziehen. Zur Diagonalität kommt es nicht nur wegen des extravaganten Aussehens, sondern auch wegen des Materials Ziegel: Nur durch die Schrägstellung der Schrift kann man horizontale wie vertikale Buchstabenzüge im Ziegelverbund ohne Absätze mauern, wodurch die Konturen immer gezackt sind und dem Ganzen eine gewisse rätselhafte Verwischtheit der Linien gibt und zugleich die Härte einer monumentalen durchgezogenen Linie bricht.

Geometrisches Kufi auf den Außenwänden der Shir Dor:

Geometrisches Kufi im Innenhofbereich der Shir Dor:

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