Bernhard
Peter
Das
geometrische Design in der indischen Architektur
Durchbrochene
Gitter - ästhetisch und nützlich
Geometrisches Design ist in
der indischen Architektur allgegenwärtig: Balkone, Geländer,
Brüstungen, Erker, Zharookas, Trennwände, Jalis, Fenster,
durchbrochene Mauern - sie alle nehmen reichlich die
gestalterischen Möglichkeiten durchbrochener Ziergitter für
sich in Anspruch. Die Ursachen für die überreichliche
Verwendung in der indischen Architektur sind vielfältig:
Klimaregulierung: Wer die Hitze der rajasthanischen Wüstenstädte erlebt hat und nicht zu Air Condition oder Fan greifen kann, wird die Klimaregulierung durch das Gitterwerk schätzen: Nur dadurch, daß die Wände wie ein Sieb gebaut sind, die Luft frei zirkulieren kann, das gleißende Licht aber gebrochen wird, ist der Aufenthalt im Inneren erträglich. In den Pavillons und Erkern hoch über der Altstadt, wo in der Höhe über den Festungsmauern immer ein frisches Lüftchen weht, da kann man existieren, während einem tief unten in der Stadt das gleißende Licht und die sich stauende Hitze das Leben schwer machen.
Sichtregulierung: Sehen, ohne gesehen zu werden! Ein traditionelles Haus z. B. eines Handelsherrn ist eine Abfolge von Einheiten zunehmender Privatheit. Im Vorhof werden Waren angeliefert, Karawanen zusammengestellt, es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen in dieser Übergangszone. Dahinter ist der Publikumsverkehr stärker reguliert, in die nächste Zone lädt der Hausherr Handelspartner ein und bespricht Geschäftliches oder Politik. Noch weiter ins Innere des Hauses kommen nur ausgesuchte Freunde, und ganz tief eindringen dürfen nur Familienangehörige. Den höchsten Grad an Privatheit genießt der Wohnbereich der Frauen. Durch die Verkleidung mit den durchbrochenen Gittern ist der Aufenthalt in Erkern und Pavillons, auf Emporen und Terrassen möglich, ohne selbst von außen beobachtet zu werden. Umgekehrt ist es den Bewohnern insbesondere weiblichen Geschlechts, deren Leben im traditionellen Haushalt vielen Restriktionen unterworfen ist, möglich, die Vorgänge im öffentlichen Raum dennoch zu beobachten oder Gesprächen in den Empfangsräumen des Hausherrn zu lauschen. Auch aus einem Innenhof höheren Privatheitsgrad läßt sich bequem beobachten, wer sich in dem öffentlich zugänglichen Bereich davor aufhält, ohne selbst gesehen zu werden.
Dekoration: Insbesondere in der dekorativen Kunst der Moghularchitektur ist von klassisch-islamischen Einflüssen auszugehen, in dem Sinne, daß das islamische Bilderverbot die Entwicklung anderer flächendeckender Dekorationstechniken wie Kalligraphie, Arabesken und geometrische Ornamentik in ungeahntem Ausmaß gefördert hat. Unter dem Einfluß der muslimischen Moghulherrscher kam es zu einer Blüte dieser Kunst in Indien.
Und die Anwendung geometrischer Ornamente ist bei weitem nicht auf die oben erwähnten Bauelemente beschränkt, unter dem Einfluß der Moghul-Kunst werden geschlossenen Flächen zunehmend geometrisch ornamentiert, aus Sandstein gehauen wie in Fatehpur Sikri, oder in Steinintarsien wie am Grab Itimad-ud-daulah in Agra z. B.
Charakterisierung
der geometrischen Muster
Die Vielfalt der Muster zu
ordnen eignen sich vielfältige Kriterien:
Art der Symmetrie-Elemente: Zweidimensionale Ordnungen können Spiegelebenen, Inversionszentren und Drehachsen besitzen. Zumindest eines dieser Elemente muß vorhanden sein, sonst kann nicht von Generation eines Musters gesprochen werden. Es müssen aber nicht alle Elemente der Symmetrie vertreten sein, es gibt Muster mit nur Drehachsen oder solche mit ausschließlich Spiegelebenen. Es wird immer das Element höchster Zähligkeit, das für das gesamte Muster Gültigkeit hat, zur Charakterisierung herangezogen, auch wenn einzelne Teilgeometrien höherer Ordnung vorhanden sein sollten. So wird im unten abgebildeten Beispiel eine der beiden vierzähligen Drehachsen gewertet und nicht eine der ebenfalls vorhandenen zweizähligen, desgleichen eines der beiden Zentren mit 4 Spiegelebenen und nicht eines mit zwei. Und trotz der Achtecke (C8) hat das gesamte Muster keine 8-Zähligkeit, sondern nur 4-Zähligkeit! Die Angabe von Inversionszentren ist bei zweidimensionalen Strukturen nicht überflüssig, denn wenn die höchste Zähligkeit ungerade (3!) ist, entfällt das Inversionszentrum. Dasselbe gilt, wenn keine Drehachse vorhanden ist, auch dann haben wir auch kein Inversionszentrum. Das Beispiel hat drei verschiedene Arten von Inversionszentren.
Zähligkeit der Symmetrie: Eine Grundunterscheidung ist die in das System 4er- und 8er-Symmetrie einerseits und 3er-, 6er-, 9er- und 12er-Symmetrie andererseits.
Schwieriger zu fassen ist der Grad am Komplexität - wie viele unterschiedliche Strukturen zu einer Gesamt-Symmetrie ineinander verschachtelt sind.
Muster-Familien: Sehr beliebt ist in der indischen Kunst die Verwendung von 4-, 6-oder 8-zähligen Rosetten im Zentrum eines Motivs. So können aus einem Grundgitter durch sukzessives Ersetzen der Kreuzungspunkte durch Rosetten oder durch Ausfüllen von Freiräumen mit Rosetten viele weitere Variationen entstehen.
Variationen: Durch das Generator-Element wird ein geometrisches Muster hinreichend definiert. Nun gibt es aber viele Variationsmöglichkeiten: Die Stärken der einzelnen Elemente können variieren, sodaß z. B. in einem kräftigeren Rahmen ein filigraneres Element eingepaßt wird etc. Die Lage im Raum, etwaige Drehungen können ebenfalls das Erscheinungsbild variieren.
Zur Charakterisierung der Symmetrie wird hier folgende Nomenklatur verwendet: s = Spiegelebene, C = Drehachse, i = Inversionszentrum
Bsp. 1: s6/C6/i = sechs Spiegelebenen und eine sechszählige Drehachse sowie ein Inversionszentrum
Bsp. 2: s0/C3/- = keine Spiegelebene, aber eine dreizählige Drehachse, deswegen kein Inversionszentrum
Bsp. 3: Das oben abgebildete Muster wäre s4/C4/i
Man kann die Muster auch noch wesentlicher mathematischer charakterisieren, dafür sei auf die Fachliteratur verwiesen.
Die Muster sind hier im Katalog schematisch als geometrisches Prinzip dargestellt - im Einzelfall können die tatsächlichen Stärken der Linien an den einzelnen Bauwerken abweichen.
Indische
und arabische geometrische Traditionen
Ähnlich dem
indischen Kulturraum verfügt auch der arabisch-islamische Raum
eine ausgeprägte Kultur des geometrischen Designs. Es gibt viele
Gemeinsamkeiten, aber auch signifikante Unterschiede:
Es gibt in der indischen Kunst viele originäre Motive, wo mir keine Entsprechung in der arabischen Kunst bekannt ist. Trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit hat das indische geometrische Design eine eigenständige Entwicklung.
Das indische Design der untersuchten Bauwerke erreicht nicht die hohe Zähligkeit. In der Regel sind die Muster 3-, 4-, 6-zählig. Einzelne Details können zwar 9-, 10- oder 12-zählig sein, im Gesamtkontext ergibt sich aber keine höhere Ordnung dadurch. In der arabischen Welt kommen aber durchaus höhere Zähligkeiten vor, man denke nur an die Alhambra-Gruppen.
Im indischen Design kommen viele Muster vor, die zwar Drehachsen, aber keine Spiegelebenen haben. Wie ein 3-, 4- oder 6-zähliger Wirbel entziehen sie sich jeder Achsenspiegelung. Das ist im arabischen Design seltener.
In den indischen Mustern - besonders des Marwar-Reiches (Jodhpur, Bikaner) werden die an sich streng geometrischen Konzepte gerne um floral anmutende Rosetten im Zentrum einzelner Elemente bereichert, in Jodhpur eher breit stilisiert, in Bikaner schlank-lanzettlich. Arabisches Design ist da reiner geometrisch.
In der Regel erreichen die indischen Motive nicht den hohen Grad an Komplexität wie z. B. im andalusischen Raum. Das Generatorprinzip ist jeweils relativ überschaubar.
Die 4er-Symmetrie erfreut sich großer Beliebtheit in der indischen Architektur, während die 3er- und 6er-Symmetrie in der arabischen Kunst deutlicher zu überwiegen scheint.
Das geometrische Design der Zharookas - Muster 1-10 - Muster 11-20 - Muster 21-30 - Muster 31-40 - Muster 41-50 - Muster 51-60 - Muster 61-70 - Muster 71-80 - Muster 81-90 - Muster 91-100 - Muster 101-110 - Muster 111-120
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Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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